Donnerstag, April 25, 2024
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Verschwörungstheorien sind attraktiv und tückisch – Aber was haben sie mit Hanau zu tun?

Wie funktionieren Verschwörungsideologien und was treibt Menschen dazu, deren Theorien den Vorzug vor belegbaren Fakten zu geben und sich schlimmstenfalls zu radikalisieren und Menschen zu töten? Das Blutbad von Hanau wirft einmal mehr diese Fragen auf. Sputnik sprach mit der Expertin für Verschwörungstheorien und Sekten, Giulia Silberberger.

Die Berlinerin Guilia Silberberger ist Gründerin des Negativpreises „Goldener Aluhut“, mit dem jedes Jahr Verschwörungstheoretiker aller Art ausgezeichnet werden. Als ehemalige Zeugin Jehovas weiß die junge Frau nur zu gut, was es heißt, mit ideologischem Missbrauch zu leben. Seit Jahren engagieren sich Silberberger und ihre Mitstreiter nicht nur in Form der Preisverleihung, sondern auch in zahlreichen Vorträgen und Aufklärungsveranstaltungen im Kampf gegen Fake News, Verschwörungsideologien und Rechtspopulismus. Inzwischen hat sie ein großes Fachwissen zu dieser Thematik.

Im Sputnik-Gespräch erklärt Silberbeger, anlässlich des Attentats in Hanau, was Verschwörungsideologien so gefährlich macht und wie sich Verbrecher wie der Attentäter von Hanau, Tobias Rathjen, radikalisieren.

– Gedankensteuerung, Zeitreisen, unterirdische Lager, in denen Kinder missbraucht und getötet werden. Für uns sind solche Behauptungen Neuland. Wie neu waren sie für Sie?

– Ich beschäftige mich damit schon seit sechs Jahren. Ich habe sein Manifest gelesen und muss sagen: Es ist ein Zusammenschluss dessen, was mir in meiner täglichen Arbeit begegnet. In meiner „Feldforschung“, wie ich sie nenne – auf Facebook, Twitter, in Foren von Verschwörungsideologen. Er hat ja wirklich den Großteil der Verschwörungstheorien in sich vereint. Er geht sogar noch einen besonderen Schritt weiter und ist überzeugt davon, dass seine Gedanken und seine Ansichten die Welt gesteuert haben. Wir haben nicht besonders viele Verschwörungsideologen, die überzeugt davon sind, dass ihre Gedanken explizit das Weltgeschehen steuern.

– Was braucht es für eine Radikalisierung?

– Das kann verschiedene Faktoren haben. Wie ich das auch bei Tobias Rathjen herauslese, scheint auch eine seelische Erkrankung im Vordergrund zu stehen, die wohl seit frühster Kindheit besteht. Bei ihm ist es ein ganz anderes Level als bei „durchschnittlichen“ Verschwörungsideologen. Die geraten oft über eine Kleinigkeit rein. Da hat vielleicht jemand mal im Newsfeed irgendwas geteilt über den Staat, der uns kontrolliert, oder über die gesteuerte Flüchtlingskrise, vielleicht wurde auch auf 9/11 Bezug genommen und gesagt: Krieg wurde ausgelöst, und hier nochmal Destabilisierung, und deswegen kommen sie jetzt nach Europa, und das Ziel der Eliten ist es, uns ins Chaos zu stürzen … Da klicken sie drauf, und es erscheint ihnen vielleicht plausibel. Sie googeln weiter und finden immer mehr Informationen dazu. Dann suchen sie eventuell Anschluss und kommen so in die Szene rein. Das können ganz niedrigschwellige, öffentliche Facebook-Gruppen sein, die jeder besuchen kann. Da kann man Schlagworte wie „NWO“, „Chemtrails“, „jüdische Weltverschwörung“ eingeben und wird fündig. Das sind die ersten Sammelbecken. Von dort aus kann es zu privateren Gruppen weitergehen oder zu radikalen Elementen. Vielleicht denkt man sich dann aber auch: „Hey, ich mache jetzt irgendwas. Ich bin so empört über diese Zustände, und ich möchte nicht weiter von der Regierung unterdrückt werden. Ich werde jetzt aktiv.“ Der eine geht Zettel verteilen, der andere macht eine Demo. Es kann aber eben auch passieren, dass einer im stillen Kämmerlein anfängt, Waffen zu bauen, auf die Straße geht und Menschen tötet. 

– Können Sie beurteilen, wie groß diese Szene in Deutschland ist?

– Es ist schwer zu sagen, eben, weil es so viele Einzel-Szenen sind. Wir können hier aber durchaus von Zehntausenden, Hunderttausenden sprechen, zusammen mit den Impfgegnern, den rechten Gruppierungen, Chemtrailer usw. Nehmen wir einfach nur diejenigen, die aufgrund der Verschwörungsideologien, die von der AfD im Wahlkampf verbreitet werden, sich zu dieser Partei hingezogen fühlen … Wir haben eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung für die rechtspopulistischen Parteien, die mit Verschwörungsideologien Wahlkampf betreiben. Das ist eine Zahl, die nicht zu unterschätzen ist. Wir sollten auf jeden Fall ein Auge darauf haben! Dass rechte Gruppierungen sich mit Impfgegnern vernetzen, Chemtrailer mit Reichsbürgern usw., das ist nicht neu, sondern eine Entwicklung, die seit Jahren stattfindet, weil diese Themen ineinandergreifen.

– Was könnten Politik und Medien machen, um der Ablehnung ihnen gegenüber entgegenzutreten?

– Was ich mir von den Medien auf jeden Fall wünschen würde, wäre sachgemäße, ordentliche Berichterstattung, und keine tendenziöse. Die Zustände sind schon schlimm genug, und es ist wirklich nicht zielführend, wenn noch Öl ins Feuer gegossen wird, wie das gewisse Boulevardblätter gerne mal machen. Wir dürfen jetzt aber auch keine Hexenjagden gegen Verschwörungsideologen starten. Das ist ganz wichtig, dass der Kumpel, der irgendwo in einer Kommentarspalte etwas „schwurbelt“, nicht sofort mit dem Täter von Hanau gleichgesetzt wird. Wenn wir Fake News erkennen, müssen wir diese auch benennen, keine Frage. Es ist wichtig, Gegenrede zu leisten und das Ganze auch richtigzustellen, seine Argumente zu belegen, mit seriösen Quellen zu untermauern. Medienkompetenz ist etwas, was in diesem Zusammenhang unheimlich wichtig ist. Denn viele Menschen geraten in diese Kreise aus Unwissenheit, falsch geklickt, nicht gewusst, wie man mit dieser News umgehen soll und wer dahintersteht. Die Fragen, die man sich stellen sollte, wenn man eine solche Meldung sieht, muss man erstmal wissen. Wir müssen das deshalb an die Schulen bringen und die Öffentlichkeit wissen lassen, wie man mit Fake News umgehen soll, wie man sie erkennt und widerlegt. Auf lange Sicht ist das meiner Meinung nach eine der wichtigsten Maßnahmen, indem wir den nachfolgenden Generationen Werkzeuge an die Hand geben, um mit diesen Dingen umzugehen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass sie in den nächsten zehn, zwanzig Jahren von der Bildfläche verschwinden.

– Die Politik will mehr Kontrolle, indem beispielsweise die Betreiber von Facebook, YouTube oder Google stärker in die Verantwortung genommen werden sollen. Wie hoch stehen die Chancen, dass das funktioniert?

– Schwierig. Nur, weil etwas aus dem Blickfeld verschwindet, ist es ja nicht weg. Es ist gut, dass dagegen vorgegangen wird und Reglementierungen eingeführt werden. Die müssen aber gut überlegt sein. Ich bin absolut gegen die Zensur des Internets! Da sich nun aber entsprechende Elemente in diesem Netz bewegen, müssen wir eine Überwachung schaffen. Der Staat sollte auf jeden Fall auf diese rechtsextremistischen, verschwörungsideologischen Seiten ein Auge haben. Schauen, was da verbreitet wird, wer sich dort tummelt und wo die Schnittmengen zu anderen Verschwörungsideologen und Rechtsextremisten sind, die sich bereits in den Karteien befinden. Wir müssen die Internet-User stärken, damit sie wissen, wie sie mit so etwas umgehen sollen.

– Nach Anschlägen werden Videos, die sie dokumentieren, relativ schnell vom Netz genommen. Das bedeutet aber nicht, dass die Vielzahl an anderen Videos, die zu Gewalt aufrufen, ebenso konsequent gelöscht wird…

– Das ist richtig. Vor allem verteilt sich das auf Server und Gruppierungen, WhatsApp-Gruppen und private Festplatten, auf die der Staat keinen Zugriff hat. Unter der Hand wird es dann weiter geteilt. Das ist auch der Grund, warum ich gegen die Zensur des Internets bin – es verlagert sich dann bloß auf eine andere Ebene. Eine Ebene, auf der wir es nicht sehen, und die sich unserer „Überwachung“ entzieht. Menschen wie wir, die Aufklärung betreiben, haben es dann auch schwerer, in diese Gruppen reinzukommen, um zu gucken, wie sich die Szene entwickelt. Wir verschließen das Ganze also nicht nur vor den Augen der Öffentlichkeit, um sie zu schützen, sondern leider auch vor unseren eigenen Augen. Die Vogel-Strauß-Politik hat uns nie geholfen – wir müssen das aufarbeiten.

– Es geht auch um Redefreiheit. Wenn Konzerne wie Facebook und YouTube künftig mehr Inhalte löschen, dann entscheiden sie mit darüber, was bei uns gesagt werden darf. Dabei gibt es ja eine Menge User, die legitime Sachen teilen…

– Uns erwischt es auch immer wieder. Es gab eine Zeit, in der unsere Admin-Accounts regelmäßig gesperrt waren, weil in den Screenshots, die wir gepostet haben, Hitler vorkam. Das war genug, um uns mit einer Sperre zu versehen. Das geht in eine völlig falsche Richtung, während die Rechten und die Verschwörungsideologen ihre Sachen ungestraft ins Netz hinausblasen können. Was die Redefreiheit angeht, sehe ich persönlich die Grenze bei der justiziablen Aussage. Holocaust-Leugnung möchte ich nicht auf YouTube sehen, und das hat da auch nichts zu suchen.

– Stichwort Medienkompetenz. Wie erkenne ich den Unterschied zwischen Verschwörungstheorien und Informationen aus alternativen Quellen, die tatsächlich meinen Bildungshorizont erweitern können?

– In Verschwörungstheorien und Fake News geht es nicht um Berichterstattung, die beispielsweise sagt, „Anis Amri war von Verfassungsschützern umgeben, die haben aber nichts gemacht“. Sondern es wird gesagt: „Er war von Verfassungsschützern umgeben, sie haben nichts gemacht, weil das zum Plan der Eliten gehört“. Es wird also ein Ziel verfolgt, und dieses Ziel erklärt die Verschwörungstheorie. Alles, was dazu passt, wird einfach inkludiert. Auch Dinge, die gegen die Theorie sprechen, werden so umgedeutet, dass sie sie bestätigen. Genauso wie Rathjen in Hanau in seinem Manifest überzeugt ist, dass er als einziger die Wahrheit begriffen hat, machen es auch die anderen Verschwörungsideologen. Das macht auch den Reiz der Verschwörungstheorien aus – sich selbst einzureden, man hätte elitäres Wissen, das die anderen nicht haben.

– Ob Donald Trump in den USA oder hierzulande die AfD – wer sie gut findet, fühlt sich durch Kritik nur bestätigt… 

– Das ist richtig. Viele wissen ja, dass ich eine ehemalige Zeugin Jehovas bin, weswegen ich mich ja auch so gegen ideologischen Missbrauch engagiere. Bei den Zeugen Jehovas wurde immer gesagt: Freut euch, wenn ihr in meinem Namen verfolgt werdet – das Königreich Gottes ist nah! Das Gleiche sehe ich bei den Verschwörungsideologen und den Rechten, die sich auf die Schulter klopfen und sagen: Sie haben uns angegriffen, also haben wir Recht! Das ist dieser Selbstbetrug, der der Tod einer jeden Selbstreflexion ist. Das ist auch eine Botschaft, die ich rüberbringen möchte, dass man sich immer fragt: Warum möchte ich etwas glauben, obwohl die Gegenbelege da sind? Warum möchte ich glauben, dass etwas wahr ist, obwohl die Faktenlage dagegen spricht?

– Wenn ich jemanden in meinem Umfeld habe, bei dem ich Sorgen habe, dass er in eine solche Ideenwelt abdriften könnte, was könnte ich da machen?

– Erst einmal sollte man schauen, wie tief die Person überhaupt schon drin ist. Wenn sie gerade erst anfängt, sich mit diesen Sachen zu beschäftigen, dann ist sie meistens noch sehr offen für Gegenargumente. Dann hat sie ihr Weltbild noch nicht so gefestigt, dass sie sagt: „Das ist alles Teil der Verschwörung!“ Man kann sich dann die Zeit nehmen, zusammen gegenrecherchieren und vielleicht Studien dazu durchlesen. Das Gespräch suchen und fragen: Wieso möchtest du denn glauben, dass das wahr ist? Was bringt dir das?

Viele Menschen haben Ängste und Nöte, können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, der Job ist unsicher. Und aus dieser Unsicherheit heraus suchen sie sich Schuldige für die Misere, in der sie stecken. Ganz oft ist dann eben der Staat schuld, der die Deutschen kleinhalten will – da sind wir wieder im rechten Bereich. Die berühmten Ausländer, die uns die Jobs wegnehmen, sind auch eine Sau, die immer wieder durchs Dorf getrieben wird, auf die aber ganz viele Leute anspringen, weil sie selbst vielleicht in einer finanziellen Notlage sind. Viele sind auch in einer medizinischen Notsituation und werden von den alternativmedizinischen Rechtsesoterikern abgefangen, wo sich auch eine tiefe rechte Gesinnung und Antisemitismus finden. Dadurch können sie in die Radikalisierung reinrutschen oder im Zweifel an ihrem Leiden versterben, weil sie keine evidenzbasierte medizinische Behandlung erfahren.

Wenn die Person also schon tief drin ist und eine ideologische Bindung hat, sollte man sich nicht scheuen, sich an eine Sektenberatung oder an Menschen wie uns zu wenden. Wir haben auch Kontakte zu Psychotherapeuten und Beratungsstellen, die helfen können. Wenn es wirklich so schlimm ist, dass die Familienstruktur oder die Freundschaft an der Sache zerbricht, sollte man sich kurz zurücknehmen und später noch einmal ansetzen.

Ich sage immer: Niemand ist hoffnungslos verloren! Ich finde es sehr schade, dass wir Tobias Rathjen verloren haben und er so viele Menschen mit in den Tod genommen hat. Das ist eine fürchterliche Tragödie!

* Die in diesem Artikel vorgebrachten Ansichten müssen nicht denen der Sputnik-Redaktion entsprechen.

Quelle!:

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