Dienstag, April 30, 2024
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Zwangsurlaub für Akten – „Liegevermerke“ bei Berliner Polizei auf Rekordhoch

Ermittlungsakten der Polizei, die länger als einen Monat unbearbeitet sind, erhalten einen „Liegevermerk“. Davon hat es bei der Berliner Polizei im vergangenen Jahr über 127.000 gegeben. Die Gewerkschaft der Polizei ist nicht erfreut, aber auch nicht überrascht. Ihr Sprecher Benjamin Jendro erklärt im Sputnik-Gespräch, warum.

Dafür, dass die Berliner Polizei mal wieder dasteht, als bummele sie bei Ermittlungen ohne erkennbaren Grund, klingt Benjamin Jendro vergleichsweise ruhig und loyal. Er verkneift sich ruppige Attacken gegen die Berliner Landespolitik, der er eigentlich mit gutem Grund die Leviten lesen könnte. Aber das ist Jendro möglicherweise zu billig. Und auch nicht nötig, denn die nüchternen Fakten, auf die er verweist, sprechen für sich.

„Es ist ganz einfach so, dass Berlin in den letzten 15 Jahren um fast eine halbe Million gewachsen ist und wir nicht mehr Polizisten haben als vor 15 Jahren. Wo mehr Menschen sind, da entstehen auch mehr Kriminalitätsfälle. Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz am 19.12.2016 wurde verstärkt Personal in den Staatsschutz geschoben, sodass andere Bereiche, wo viele Liegevermerke geschrieben werden, und da reden wir gerade vom LKA2, wo die Betrugsdelikte behandelt werden, dass dort Personal eingespart wurde, und das ist jetzt die Folge davon.“

Rechtsstaat braucht zeitnahe Gerichtsurteile

Ohne abgeschlossene Ermittlungen gibt es keine Verhandlung vor Gericht. Für die dort arbeitenden und ebenfalls überlasteten Richterinnen und Richter bedeutet das vielleicht eine Entlastung. Für die Bürgerinnen und Bürger, die auf eine rasche Verurteilung von Straftätern oder auch auf einen Freispruch warten, ist es aber ein zermürbender Zustand. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind 127.000 Liegevermerke für einen Rechtsstaat nicht mehr nur ein peinliches, sondern ein gefährliches Phänomen, denn es untergräbt den Glauben an eben diesen Rechtsstaat.

Benjamin Jendro listet auf, wo sich Liegevermerke von Akten im Berliner Landeskriminalamt besonders häufen: „Über 90.000 von den fast 130.000 Liegevermerken wurden im letzten Jahr im LKA2 geschrieben, und das kümmert sich um Betrugsdelikte. Dann haben wir sehr, sehr viele Liegevermerke auch im LKA4, das sich mit Organisierter Kriminalität, speziell mit Drogendelikten beschäftigt. Und dann folgen einzelne LKA-Bereiche, wie beispielsweise das LKA3, wo es hauptsächlich um Wirtschaftskriminalität geht. Und auch das LKA5, da reden wir dann vom Staatsschutz. Kategorisch ist es so, dass das LKA6, wo unsere Spezialeinheiten, also SEK, MEK anzusiedeln sind, dass die logischerweise die wenigsten Liegevermerken haben. Aber nichtsdestotrotz haben wir in allen Bereichen viel zu viele.“

Ermittlungen bei Betrügereien kommen zu kurz

Dass vor allem die Bearbeitung von Betrugsdelikten liegenbleibt, ist deshalb besonders ärgerlich, weil gerade diese Deliktgruppe erhebliche Zuwächse an Fallzahlen aufweist. Auch benötigt die Bekämpfung der signifikant ansteigenden Cyber-Kriminalität ausreichend und ausreichend geschultes Personal. Benjamin Jendro kann dennoch nicht erkennen, dass sich die in Berlin aktiven Kriminellen auf den etwas weniger intensiven Ermittlungsdruck eingestellt hätten und genau in den Bereichen umtriebiger werden, in denen ihnen theoretisch weniger Entdeckungsrisiko droht. Normalerweise registrieren Kriminelle temporäre oder deliktbezogene Personalnot bei der Polizei nutzen sie aus. „Umso wichtiger ist es, dann wirklich das Personal auch nicht nur auf Fallzahlen auszurichten, sondern zu gucken, dass wirklich alle Bereiche sachgemäß und ordnungsgemäß abgedeckt sind.“

Mehr Kriminalität erfordert mehr Polizeipersonal

Der Polizeigewerkschaftssprecher verweist auf die Binse, dass, wer mehr Kriminalitätsfälle in einer Stadt mit wachsender Bevölkerung erfolgreich bekämpfen will, um mehr Personal bei der Polizei nicht herumkomme. Die Politik hat für die personellen Engpässe gesorgt. Nur sie kann sie auch wieder beheben.

Allerdings sollten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht der Illusion hingeben, dass sozusagen in den nächsten Wochen oder Monaten eine Neueinstellungswelle bei der Polizei bevorstehe und der Berg von liegengebliebenen Akten abgearbeitet würde. Jendros Einschätzung ist in dieser Hinsicht ein weiteres Mal sehr nüchtern und in ihrer spröden Logik sicherlich nichts für Politiker, die in Legislaturperioden denken:

„Mehr Personal finden Sie nicht irgendwo auf der Straße. Das heißt, das wird auch schon zweieinhalb bis drei Jahre dauern, weil ganz einfach die Ausbildung so lang dauert. Das ist aber der einzige Weg, und irgendwann muss man halt mal anfangen, wenn man langfristig planen muss. Ich glaube, dass im Öffentlichen Dienst viel zu kurzfristig gedacht wurde in den letzten Jahren und genau da der Schuh drückt. Wir sehen das bei der Polizei, wir sehen das bei der Feuerwehr, wir sehen das in den Bürgerämtern und wir sehen das auch in den Schulen, wo Lehrermangel herrscht. Ich brauche gerade im Öffentlichen Dienst eine Personalplanung, die vielleicht auch mal nicht nur auf das nächste Jahr schielt oder auf den nächsten Monat, sondern auch wirklich 15 Jahre abdeckt, dass man da eine sichere Zukunft baut.“

Abgesehen davon bleibt auch eine andere Binsenweisheit aktuell: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Oder: Jede und jeder kann zum Beispiel durch etwas weniger sorglosen Umgang mit ihrem bzw. seinem Hab und Gut dazu beitragen, dass nicht jede Gelegenheit Diebe macht.

 

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