Freitag, Mai 3, 2024
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„Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“ – Bundespräsident in Yad Vashem

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen in einer teilweise in Hebräisch gehaltenen Rede der ermordeten Juden Europas gedacht. Es war das erst Mal, das ein deutsches Staatsoberhaupt zu diesem Anlass in Yad Vashem sprach.

Diejenigen, die die sogenannte Gnade der späten Geburt erfahren haben, werden möglicherweise Mühe haben, die besondere, außergewöhnliche Bedeutung zu erfassen, die eine Rede eines deutschen Bundespräsidenten am Tag der Befreiung des KZ Auschwitz, in der Nationalen Gedenkstätte Yad Vashem in Israel symbolisiert. Nur, wer je vor den Bergen von Schuhen, Koffern, Briefen und anderen Habseligkeiten der Ermordeten in der Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz gestanden hat; nur wer die überlieferten Geschichten des Grauens und der Grausamkeiten gelesen, gesehen, gehört hat, die Überlebende des industriellen Mordens, das im Namen einer angeblich überlegenen arischen Herrenrasse verübt wurde, für die Nachwelt bewahrt haben, wird diesen besonderen Moment vielleicht begreifen können, als heute Nachmittag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ans Rednerpult in Yad Vashem trat.

In Hebräisch begrüßte er die anwesenden Staatsgäste aus aller Welt:

„Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt. Welche Gnade, welches Geschenk, dass ich heute hier in Yad Vashem zu Ihnen sprechen darf.“

Steinmeier baute seine Rede um das Schicksal von vier Opfern des Holocaust, Samuel Tytelman und seine kleine Schwester Rega, Ida Goldiş und ihren dreijährigen Sohn Vili. Steinmeier schilderte die Tragik eines Abschiedes, von dem niemand zu dem Zeitpunkt erahnte, dass es ein Abschied für immer sein würde. Er zitierte aus einem überlieferten Brief von Ida Goldis, den sie an ihre Eltern und ihre Schwester Clara schrieb, nachdem sie im Oktober 1941 aus dem Ghetto Chișinău (heute die Hauptstadt der Republik Moldawien) deportiert worden war: „Ich bedaure aus tiefster Seele, dass ich beim Abschied die Bedeutung des Augenblicks nicht erfasste, […] dass ich Dich nicht fest umarmt habe, ohne loszulassen.“

Was Steinmeier nicht mit erwähnte: der dreijährige Vili, der zusammen mit seiner Mutter und ihrer anderen Schwester Doba Anfang 1942 auf einen Todesmarsch geschickt worden war, der kleine Vili erfror, seine Mutter starb wenige Tage später durch verseuchtes Trinkwasser. Doba Goldiş überlebte und mit ihr der Brief Idas an ihre Schwester Clara und ihre Eltern. Er wird in Yad Vashem aufbewahrt, zusammen mit tausenden anderen Zeugnissen der Ermordeten der Shoa.

Darauf ging auch Steinmeier ein:

„Deutsche haben sie verschleppt. Deutsche haben ihnen Nummern auf die Unterarme tätowiert. Deutsche haben versucht, diese Menschen zu entmenschlichen, zu Nummern zu machen, im Vernichtungslager jede Erinnerung an sie auszulöschen.

Es ist ihnen nicht gelungen.

Samuel und Rega, Ida und Vili waren Menschen. Und Menschen bleiben sie in unserer Erinnerung.

Hier in Yad Vashem wird ihnen – wie es im Buch des Propheten Jesaja heißt – „ein Denkmal und ein Name“ gegeben.

Vor diesem Denkmal stehe auch ich als Mensch – und als Deutscher.

Ich stehe vor ihrem Denkmal. Ich lese ihre Namen. Ich höre ihre Geschichten. Und ich verneige mich in tiefer Trauer.“

Der Bundespräsident bedankte sich, namens des deutschen Volkes „für die ausgestreckte Hand der Überlebenden, für das neue Vertrauen von Menschen in Israel und der ganzen Welt, für das wieder erblühte jüdische Leben in Deutschland. Steinmeier erinnerte aber dann daran, dass der Kampf gegen Antisemitismus, der eine der Hauptursachen für den Massenmord an den europäischen Juden war, nach wie vor ein nicht gewonnener Kampf ist, dass „die bösen Geister“ wieder da sind, wenn auch „in neuem Gewand“. Er wünschte sich, er könne sagen, dass die Deutschen für immer aus der Geschichte gelernt haben. Aber das könne er leider nicht:

„Das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden. Das kann ich nicht sagen, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht. Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.“

Und Steinmeier erneuerte das Versprechen, dass die Bundesrepublik Antisemitismus und Nationalismus bekämpfen will und werde, jüdisches Leben beschützen und „an der Seite Israels“ stehen wolle. Er sagte das Wort in Yad Vashem nicht, aber diese besondere Maxime von Regierungshandeln ist in Deutschland Staatsräson.

Der Brief von Ida Goldiş

Die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (auch in Englisch, Hebräisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, Türkisch und Arabisch abrufbar).

Quelle!:

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