Donnerstag, Mai 2, 2024
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Historiker zum 8. Mai: „Innehalten und Geschichte nicht als Waffe benutzen“

Pünktlich zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges erscheint ein Buch mit bewegenden Geschichten von russischen, deutschen und amerikanischen Zeitzeugen, die ihre Erlebnisse vom 8. Mai 1945 wie einen Krimi erzählen. Herausgeber Alexander Rahr sieht die Gefahr, dass die Geschichte heute durch „Russland-Bashing“ verfälscht wird.

– Herr Rahr, feiern Sie den 8. oder, wie in Russland üblich, den 9. Mai?

– Den 9. Mai. Das hängt mit der Familiengeschichte meiner russischen Frau zusammen. Ihr Großvater kam mit der Roten Armee bis nach Brandenburg. Ihre Oma hat wiederum die Blockade von Leningrad überlebt. So wird der russische Gedenktag in meiner Familie mehr begangen. Für mich selbst spielt auch noch der 29. April 1945 eine Rolle, als mein Vater von den Amerikanern aus dem KZ befreit wurde. Ohne dem wäre ich wahrscheinlich nicht geboren. Mein Vater war damals 22 und an Typhus erkrankt und wäre fast noch von der SS erschossen worden. Es gibt also unterschiedliche Erinnerungskulturen in unserer Familie, die um den 8. Mai herum zusammenkommen, wenn wir jedes Jahr am Siegerdenkmal am Brandenburger Tor Blumen niederlegen. Ich hoffe, dass dies auch in diesem Jahr, zumindest in kleinem Rahmen, möglich sein wird.

– In Russland ist der 9. Mai der „Tag des Sieges“ der größte Feiertag. Die große Siegesparade auf dem Roten Platz fällt in diesem Jahr corona-bedingt aus. Der Westen hatte die Parade die letzten Jahre kritisch gesehen und Russland eine Instrumentalisierung der Geschichte vorgeworfen.

– Der 8. bzw. in Russland 9. Mai ist für ewig Teil des historischen Gedächtnisses der Menschheit. Damals begann eine neue Welt. Heute wird dieser Tag leider instrumentalisiert – auf beiden Seiten. Geschichte wird als Waffe benutzt, um Konflikte der Gegenwart auszufechten. Das ist erschreckend. Aber ss bleibt nun mal ein historischer Fakt, dass die Sowjetunion die meisten Opfer im Kampf gegen den Hitlerfaschismus gebracht hat. Dafür gebührt ihnen ewiger Dank. Und es ist nun mal Fakt, dass sich viele Länder, die heute in der EU sind, damals Hitler angeschlossen haben im Krieg gegen die Sowjetunion.

Geschichtsinstrumentalisierung scheint ein trauriger Trend zu sein. Selbst die EU geht soweit, die Sowjetunion indirekt für den Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich zu machen. 

Dieser Trend kommt bedauerlicherweise verstärkt aus den osteuropäischen EU-Ländern. Möglicherweise wollen sie von eigenen Kollaborateuren an der Seite Hitlers im Kampf gegen die Sowjetunion ablenken. Westeuropäische Länder lassen sich hier vielleicht zu sehr vereinnahmen.

– In vielen osteuropäischen Ländern wird heute mehr an die „Diktatur“ der Sowjetunion, als an die Sowjetunion als Befreier vom Hitlerfaschismus gedacht. Denkmäler werden gestürzt.  Wie kommt das bei den Russen an?

– Katastrophal negativ. Jetzt in den osteuropäischen Ländern so zu tun, als ob man 45 Jahre nur okkupiert gewesen war von einem sowjetischen Terrorregime und selbst nur Opfer war, das greift zu kurz und ist gefährlich. 

Deshalb finde ich es an so einem Gedenktag – 75 Jahre Kriegsende – wichtig, innezuhalten. So ein Tag kommt ja nicht so schnell wieder. Beim nächsten großen Jubiläum – 100 Jahre – wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Man sollte innehalten und Geschichte nicht als Waffe benutzen.

– Was empfinden die Russen beim Gedanken an den 8. bzw. 9. Mai?

– Die Russen sind ein stolzes Volk. Und so wie jahrzehntelang der Stolz auf den Sieg über Napoleon im Ersten Vaterländischen Krieg 1812 von Generation zu Generation weitergegeben wurde, wurde das Gedenken an die Heldentat vom 8. Mai 1945 weitergegeben. Jeder Russe hat Menschen in seiner eigenen Familie, die im Zweiten Weltkrieg gestorben sind und erinnert sich an sie. Im Westen wird der Zweite Weltkrieg vor allem mit dem Schecken des Holocaust assoziiert. Aber oft wird vergessen, dass die Sowjetunion mit mehr als 27 Millionen Opfern mehr als die Hälfte aller Toten im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte. In Russland ist das unvergessen. Manche feiern an diesem Tag, andere gedenken still. Andere wollen auch daran erinnern, dass sich so ein Vernichtungskrieg nie wiederholen darf. In Russland geht es also nicht nur um die Parade auf dem Roten Platz, sondern ganz Russland gedenkt. Und auch darüber hinaus in den Ländern, die heute vielleicht kein gutes Verhältnis zu Russland haben, sind Väter und Großväter im Krieg gefallen und derer wird gedacht.

– Gerade ist das Buch „Der 8. Mai. Die Geschichte eines Tages“ erschienen. Sie sind Herausgeber und haben spannende und berührende Geschichten von russischen, deutschen und amerikanischen Zeitzeugen versammelt, wie diese den 8. Mai, vor allem in und um Berlin, erlebt haben. Wie haben Sie diese Geschichten gefunden?

– Das war eine akribische Archivarbeit von uns und dem Verlag. Wir wollten eben kein historisches Traktat, keine Analysen veröffentlichen. Unser Anliegen war es, authentische und lebendige Geschichten
von Zeitzeugen in einer Dramaturgie ohnegleichen zusammenzustellen. Das Buch soll sich wie ein Krimi lesen. Es erzählt Stunde um Stunde, wie der 8. Mai verlief und von Russen, Deutschen und Amerikanern in diesem Augenblick erlebt wurde. Dieses Drama macht den Wert des Buches aus.

– In der DDR war der „Tag der Befreiung“ landesweit Feiertag. In der BRD galt der Begriff der „Befreiung“ deshalb als verpönt, bis der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker 1985 in einer Rede auch von „Befreiung“ sprach. Was soll es anderes gewesen sein als eine Befreiung?

– Der Zweite Weltkrieg ging historisch schnell in einen schrecklichen Kalten Krieg über. Hier wurde nicht mit Waffen, sondern mit Propaganda gekämpft. So wurde in westdeutschen Geschichtsbüchern gesagt, dass Stalin, nachdem Hitler besiegt war, die Chance ergriffen hat, halb Europa mit dem Bolschewismus zu überziehen. Das hat die Weltanschauung und auch das Geschichtsbild der Menschen im Westen geprägt. So sprachen die Westdeutschen nicht von „Befreiung“, sondern sahen nur, dass die Sowjetunion ein Drittel des deutschen Territoriums okkupiert hatte. Damit sind Generationen aufgewachsen.
Man hätte 1990 nach dem Fall der Berliner Mauer, als sich Ost und West in den Armen lagen, ein gemeinsames historisches Narrativ entwickeln müssen. Westeuropa und Russland waren auch dazu bereit. Aber leider kamen uns die Amerikaner dazwischen, die aus geopolitischen Gründen anfingen, in Europa Streit zu schüren mit Russland, die Nato Richtung Osten zu erweitern und sich so Europa sicherheitspolitisch zu sichern. Und die Eliten – nicht die Völker – in einigen osteuropäischen Ländern, die Teil des Westens wurden, gingen fälschlicherweise davon aus, dass jetzt von ihnen ein „Russland-Bashing“, der Aufbau eines neuen russischen Feindbildes verlangt wurde. 

Alexander Rahr, 1959 in Taipeh in einer russischen Emigrantenfamilie geboren und in Tokio, Frankfurt und München aufgewachsen, ist Historiker, Politikberater und Publizist. 

Quelle!:

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