Sonntag, April 28, 2024
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Rechtsstaat-Streit: Eskalation mit Polen und Ungarn könnte mit EU-Austritt enden

Die EU-Kommission hat erstmals einen Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten veröffentlicht. Wie erwartet stehen vor allem zwei osteuropäische Länder, die seit langem für Kopfschmerzen in Brüssel sorgen, in der Kritik: Ungarn und Polen.

Gegen diese Länder werden die bereits bekannten Vorwürfe erhoben – Nachlässigkeit bei der Korruption, Einschränkung der Meinungsfreiheit und fehlende unabhängige Gerichte.

Warschau und Budapest waren wohl zu solcher Entwicklung bereit. Die Außenminister der beiden Länder hatten ein paar Tage zuvor die Einrichtung eines Gremiums angekündigt, das sich mit der Überwachung der rechtsstaatlichen Grundsätze in der EU befassen soll.

Der ungarische Regierungschef schickte einen Brief mit der Forderung nach dem Rücktritt einer Mitverfasserin dieses Berichts – der Vizepräsidentin der EU-Kommission und Kommissarin für Werte und Transparenz, Vera Jourova – wegen anti-ungarischer Äußerungen. Sie nannte Ungarn unter Viktor Orban eine „kranke Demokratie“.

Es ist kein Geheimnis, dass Polen und Ungarn sehr viele Vorteile aus ihrer EU-Mitgliedschaft ziehen. Auf der einen Seite bekommen sie EU-Gelder, über deren Ausmaß die Nachbarn in der Region wohl neidisch sind. Auf der anderen Seite ist das Niveau der Unabhängigkeit ihrer Politik sogar für die meisten alten Mitglieder der Union unerreichbar. Die beiden Länder machen also das, was sie für notwendig halten. Sie scheren sich nicht um Brüssel mit seiner Kritik und fordern dabei unverschämt großzügige Zuwendungen aus den EU-Geldtöpfen.

Diese Situation sorgt für Erstaunen vieler Beobachter – warum ergreift die EU, die die beiden Länder seit langem wegen fehlender demokratischer Standards heftig kritisiert, keine wirkungsvollen Maßnahmen, um die Situation zu ändern – z.B. finanzielle Strafen? Die Antwort ist simpel: Der EU fehlen die entsprechenden Instrumente. Es gibt sie in der Theorie, doch die Verfahren sind so kompliziert und erfordern einen so starken inneren Konsens, dass es fast unmöglich ist, sie in der Praxis anzuwenden.

Doch mittlerweile wächst in Budapest und Warschau die Nervosität aus einem bestimmten Grund. Die zunehmenden Aktivitäten der letzten Tage in beiden Hauptstädten deuten darauf hin, dass Polen und Ungarn offenbar mit Ungemach rechnen. 

Die EU will demnächst Gelder aus dem Fonds zur Unterstützung der nationalen Wirtschaften, die von der Pandemie betroffen wurden, verteilen. Bei einem EU-Gipfel über Haushaltsfragen im Juli wurde unter anderem die Ankopplung der Zahlungen mit der Einhaltung der rechtsstaatlichen Standards und der grundlegenden europäischen Werte vereinbart. 

Vor einigen Tagen hat Deutschland, das jetzt den Vorsitz im EU-Rat hat, den Entwurf eines Erlasses über Wirtschaftssanktionen gegen EU-Mitgliedsstaaten wegen der Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien vorbereitet. Ein wichtiges Detail dabei ist, dass ein Verstoß „ziemlich direkt“ bestätigt werden könnte. Der Bericht der EU-Kommission könnte anscheinend als solche Bestätigung dienen.

Polen und Ungarn sind davon direkt bedroht und könnten einen großen Teil der EU-Gelder verlieren – da stellt sich die Frage nach ihrer Reaktion auf diese Entwicklung.

Doch aus beiden Ländern kommen drastische Erklärungen, darunter Versprechungen, Europa selbst Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beizubringen. Dies deutet darauf hin, dass Warschau und Budapest sich wohl nicht dem Druck beugen werden. Wahrscheinlicher ist eine andere Reaktion – ein EU-Austritt.

Während ein Austritt eines EU-Mitglieds vor kurzem noch undenkbar schien, hat sich in kürzester Zeit vieles verändert – im politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Sinne.

Die Wirtschaften in Ungarn und Polen gehören nicht nur zu den sich erfolgreichst entwickelnden in Osteuropa, sondern in ganz Europa. Beide Ländernutzten gekonnt ihre Möglichkeiten und Finanzhilfen, die sie seit 15 Jahren von Brüssel bekommen. Sie glauben nun, dass sie ohne Brüssel auskommen können. Doch die Idee, in der EU ohne die üblichen Finanzspritzen zu verbleiben, ist nicht so attraktiv. Natürlich hat die EU viele Möglichkeiten, Warschau und Budapest für ihre Lossagung zu bestrafen. Doch Großbritannien liefert das Gegenbeispiel. Der Brexit sorgte schließlich dafür, dass die Idee des EU-Austritts kein Tabu mehr ist.

Im politischen Sinne fühlen sich Polen und Ungarn durch die Situation ebenfalls dazu veranlasst, auf Eskalation zu setzen. Das globale politische Systemverfällt rasend, ambitionierte Mächte kämpfen um ihren Platz und die Erhöhung ihres Status. Polen und Ungarn nehmen bereits an diesen Prozessen teil, obwohl sie auf ganz verschiedene Strategien setzen – daraus ergeben sich übrigens viele ihrer Probleme mit einem einheitlichen Europa.

Das Ergebnis ist natürlich unvoraussehbar, doch die Option „machen und vielleicht dann dies bedauern“ ist für die aktuelle Führung der beiden Länder zweifelsohne besser, als ein gehorsamer Vasall der westeuropäischen Länder zu sein, indem man im gestarteten geopolitischen Rennen im Voraus kapituliert hat.

Und die EU kann sich nicht erlauben, dass zwei freche osteuropäische Länder weiterhin ungestraft ihr Ansehen untergraben – und muss sie sensibel bestrafen, um ihre eigene Macht zu demonstrieren. Doch ein ziemlich wahrscheinlicher Verlust von zwei Mitgliedern würde ein Bumerang für ein einheitliches Europa, sein Gewicht und Prestige sein. Ergo: Wer letzten Endes dies mehr bedauern wird – das ist eine große Frage.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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