Freitag, April 19, 2024
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„Selbstschutz und Solidarität“ oder „Angriff auf Freiheitsrechte“? – Bundestag zu Masernschutzgesetz

Die Bundesregierung will ein Masernschutzgesetz. Der Bundestag beschäftigte sich in erster Lesung mit dem Gesetz. Es sieht eine Nachweispflicht für Masernschutz für Menschen in Kitas, Schulen, medizinischen und Asyleinrichtungen vor, um Immungeschwächte und Säuglinge vor Ansteckung zu schützen. Die AfD kritisiert einen Angriff auf Freiheitsrechte.

Beinahe 500 neue Masernfälle hat das für ansteckende Krankheiten zuständige Robert-Koch-Institut in Berlin bislang gemeldet. Und das Jahr 2019 ist noch nicht einmal zu Ende. Thomas Gebhart, für die Christlich Demokratische Partei (CDU) als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium (BMG), war nicht der einzige, der diese Zahl in der vergleichsweise disziplinierten ersten Lesung des neuen Masernschutzgesetzes vortrug. Normalerweise schlagen die Emotionen bei diesem Thema innerhalb kürzester Zeit hoch.

Gebhart ist ebenfalls emotional in dieser Sache. Denn er kann und will einfach nicht verstehen, vor allem aber will er nicht mehr hinnehmen, dass bei dem Angebot an zuverlässigen Impfstoffen, dem bekannten Wissen von Medizinern und Forschern zum Thema Masern und dem hochentwickelten Gesundheitssystem in Deutschland dennoch so viele Menschen keinen effektiven Impfschutz gegen Masern aufweisen, dass diejenigen Menschen in der Bundesrepublik zunehmend gefährdet sind, die auf verschiedenen Gründen noch nicht gegen diese gefährliche Krankheit geimpft werden können. Das sind vor allen anderen immungeschwächte Personen und Säuglinge vor dem ersten Lebensjahr. Der sogenannte Herdenschutz greift erst ab einem Immunisierungsgrad, den die Weltgesundheitsorganisation WHO mit 95 Prozent vorgibt, also 95 Prozent der Bevölkerung muss mindestens zweimal gegen Masern geimpft worden sein.

Exakt diesem Personenkreis soll deshalb auch das neue Masernschutzgesetz zu Gute kommen, erklärte Staatssekretär Gebhart. Konkret sollen Kinder und Mitarbeiter in Kitas, Schulen, medizinischen und Asyleinrichtungen nachweisen müssen, dass sie zweifach gegen Masern geimpft wurden. Wer das nicht nachweisen könne, dürfe weder in diesen Einrichtungen aufgenommen werden noch tätig werden. Das Grundgesetz schütze das Recht auf körperliche Unversehrtheit, bekräftige Staatssekretär Gebhart, zugleich habe der Staat aber auch die Pflicht, die Schwächsten der Gesellschaft aktiv zu schützen.

„Wiederholter und gezielter Angriff auf die Freiheitsrechte unserer Bürger“

Ulrich Oehme von der Alternative für Deutschland (AfD), der in seiner Eigenschaft als Vertreter der größten Oppositionspartei das Recht auf direkte Erwiderung hatte, kam auch sofort zur Sache. Die AfD sei zwar für niedrigschwellige Angebote, aber sie könne diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, denn, so Oehme wörtlich:

„Es ist der wiederholte und zielgerichtete Angriff auf die Freiheitsrechte unserer Bürger.“

Oehmes wesentliche Kritikpunkte an dem Gesetzentwurf: Er betreffe zum einen Kinder, die aber mit einer sogenannten Durchimpfungsrate von 97,1 Prozent gar nicht das Problem der Impflücke darstellen, zum anderen Erwachsene zwischen 20 und 50 Jahren. Im Zweifel würden mehr als 88 Prozent aller Kleinkinder unnötigerweise doppelt geimpft. Zum anderen würden Staaten wie Frankreich und die Tschechische Republik zeigen, dass trotz Impflicht in diesen Ländern die Zahl der Masernerkrankungen deutlich höher sei als in Deutschland. Und drittens kritisierte Oehme, dass durch die vorgeschriebene Möglichkeit von Kombinationspräparaten auch andere Krankheiten gleich mit beimpft werden, bei denen die Menschen im Zweifel keinen Einfluss darauf hätten, welche Inhaltsstoffe ihnen mit der Impfung verabreicht würden.

Oehme erklärte namens der AfD, diese wolle nicht, „dass der Staat die Aufgaben der Eltern übernimmt“. Schlussendlich stellte er die Frage in den Raum, warum sich der Staat auf einmal so um Masern kümmere, statt angesichts der Fallzahlen nicht viel bedeutendere Themen wie multiresistente Keime anzugehen.

„Ein leichter und begrenzter Eingriff in die Freiheitsrechte, aber mit hohem gesellschaftlichem Nutzen“

Die Reaktionen auf die Rede des AfD waren, gemessen an der sonstigen Heftigkeit gegen diese Partei, aber vor allem beim Reizthema Impfen, ziemlich gesittet. Sabine Dittmar von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), von Beruf Ärztin, die Oehme unmittelbar am Rednerpult folgte, erinnerte ihren Abgeordnetenkollegen lediglich daran, dass die Vertreter seiner Partei im Brandenburger Landtag ihrer Wahrnehmung nach eine grundsätzlich andere Politik in dieser Angelegenheit verfolgen würden als Oehme. Für Sabine Dittmar und namens der SPD sei dieses Gesetz „ein leichter und begrenzter Eingriff in die Freiheitsrechte“, dem aber ein hoher gesellschaftlicher Nutzen gegenüberstehe.

„Wenn Kinder sterben, verstehe ich keinen Spaß mehr“

Ähnlich war die Tonlage bei Andrew Ullmann von der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP), ebenfalls von Beruf Arzt. Er bezeichnete immer noch zu beobachtende sogenannte Masernpartys als, so wörtlich, Körperverletzung. Er verglich Impfkritiker mit Menschen, die auch daran glaubten, dass AIDS eine Erfindung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA sei. Das war es dann aber auch schon an Emotionalität in Richtung Kritiker innerhalb und außerhalb des Bundestages. Ullmann erklärte namens der FDP, dass diese sich auch für eine Impfpflicht ausspreche, wenn Eltern ihre Kinder nicht schützen wollten: „Wenn Kinder sterben, verstehe ich keinen Spaß mehr.“

Für Susanne Ferschl von der Partei „Die Linke“ ist nicht eine sogenannte Impfmüdigkeit in der Bevölkerung verantwortlich für die teilweise erschreckend niedrigen Impfraten in Deutschland, sondern der „neoliberale Kahlschlag in der Gesundheitsversorgung“, wie sie es nannte, in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten. Ferschl erinnerte daran, dass es sogenannte aufsuchende Impfangebote in Ost und West schon einmal gegeben habe, der Idealfall für Niedrigschwelligkeit, die doch alle angeblich wollen. Stattdessen habe sich der Staat aus der Verantwortung zurückgezogen, beklagte die Linke-Politikerin.

„Jede Familienfeier wird zur Gefahr“

Im Grundsatz stimmte ihr ihre Kollegin Kordula Schulz-Asche von „Bündnis90/Die Grünen“ bei dieser Analyse zu, aber natürlich nicht in der Wortwahl. Aber auch die grüne Politikerin, die von Beruf Krankenschwester ist, beklagte aus eigenem Erleben nicht angemessene Impfangebote. Es seien „zielgruppennahe und regional angepasste Aufklärung“ nötig, und Impfangebote müssten leicht zugänglich sein und in den Alltag integrierbar, „dass man nicht einen halben Tag Urlaub nehmen muss, um seine Kinder impfen zu lassen“. Auch Schulz-Asche legte das Augenmerkt auf die Tatsache, dass die Alarmstimmung eigentlich durch die Gruppe der 20- bis 50-Jährigen ausgelöst werden müsste, wo es in einigen Regionen Impfraten von unter 50 Prozent gebe. „Jede Familienfeier wird da zur Gefahr“, mahnte die bündnisgrüne Politikerin. Der Bundesregierung fehle eine umfassende Impfstrategie.

Stefan Pilsinger schließlich, Arzt mit dem Parteibuch der Christlich Sozialen Union (CSU), erinnerte daran, dass wegen der zu geringen Impfraten das Risiko, an einer ungewollten Masernerkrankung zu sterben, überdeutlich höher sei als wegen Komplikationen nach einer Impfung. Und der Mediziner machte es in seinem Redebeitrag kurz und schmerzlos mit seiner Meinung, wonach „die Freiheit des einzelnen da endet, wo die Freiheit des anderen eingeschränkt wird“.

Nun liegt der Ball im Feld des Gesundheitsausschusses des Bundestages, wo in der kommenden Woche eine große Anhörung mit vielen Experten stattfinden wird, die von den Fraktionen zu der öffentlichen Diskussion eingeladen wurden.

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