Dienstag, April 16, 2024
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Vernichtung in Auschwitz: Staatsverbrechen und logistisches Mordunternehmen

Am 27. Januar 1945 haben Einheiten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit. Das jährt sich zum 75. Mal. Im Interview spricht Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees darüber, was der Tag heute bedeutet und wie weiter an den Völkermord an den Juden erinnert werden kann.

– Herr Heubner, wie kann 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers daran erinnert werden? Wie muss daran erinnert werden?

– Man muss zum einen die Toten ehren. Man muss alle die ehren, die in Auschwitz als Asche geblieben sind, die jüdischen Opfer, die Sinti und Roma, die sowjetischen Kriegsgefangenen. Und man muss gleichzeitig den Blick auf die heutige Welt richten. Wenn man das Eine tut und das Andere lässt, ist es kein richtiges Gedenken. Das hat immer nur Sinn, wenn man auch über die Welt spricht, wie sie heute ist – und wie sie wieder mal werden könnte, wenn wir alle gemeinsam nicht aufpassen beim Blick auf das, was geschieht. So wollen die Überlebenden das Gedenken gestaltet wissen. Das verbinden sie mit diesem Gedenkakt am 27. Januar in Auschwitz selbst. Deshalb ist es für sie einfach schmerzlich, dass es um diesen Gedenktag wieder zwischen Polen und Russland sowie zwischen Polen und Israel Konflikte gibt. Für sie wäre dieser Tag ein Tag, an dem es gerade keine Auseinandersetzungen hierzu geben sollte. Kein Tag der reinen Harmonie, des reinen Gedenkens, aber ein Tag, an dem Gespräch das wichtigste Medium ist, und nicht Abgrenzung voneinander.

– Sie haben kürzlich in einem Pressegespräch mit ausländischen Korrespondenten darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, heute daran zu erinnern. Sie wiesen auch darauf hin, dass es so etwas wie eine Müdigkeit und fehlende Bereitschaft in der Gesellschaft gibt, heute weiter daran erinnert zu werden. Welchen Weg haben Sie gefunden, um das Unfassbare heute noch fassbar zu machen?

– Wenn ich in Auschwitz mit Gruppen hauptsächlich von jungen Volkswagen-Auszubildenden, jungen polnischen Berufsschülern, gemeinsam durch die Gedenkstätte gehe, erzähle ich von den Menschen. Ich erzähle Familiengeschichte, exemplarisch auf die damalige Zeit bezogen. Ich erzähle von Menschen, die damals so alt waren wie die jungen Leute von heute, von ihrer Lebenssituation, ihren Hoffnungen und Erwartungen, und dem, was dann tatsächlich geschehen ist. Und ich versuche darzustellen, warum das geschehen ist, warum diese Menschen, wenn sie Juden oder Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene waren, zu Opfern wurden. Und was mit ihnen geschehen ist, wie sie behandelt wurden. Und was das für uns heute bedeutet.

Wenn sie dann darüber sprechen, dass Menschen damals versucht haben, zu flüchten, und sich ihnen keine Fluchtmöglichkeiten geboten haben, weil alle Länder ihre Grenzen geschlossen haben, keine Visa erteilt wurden, weil man einfach das Problem nicht sehen wollte, dann gibt es natürlich Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der heutigen Situation. Genauso gibt es Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der Beziehung von Völkern zueinander im Blick auf die jeweilige Geschichte. Das muss man zueinander in Beziehung setzen.

– Sie haben ebenso gesagt, dass Auschwitz als Tat, als Verbrechen, das unfassbar erscheint, menschengemacht war. Was bedeutet das?

– Das bedeutet, dass es für uns Menschen immer ein Stachel in unserem Fleisch bleibt. Unseresgleichen hat das gemacht! Man kann das deshalb nicht abgrenzen, als wäre das eine von anderen Spezies bevölkerte Welt gewesen. Auschwitz ist eine Welt, die uns unmittelbar angeht. 75 Jahre sind in der Geschichte der Menschheit ein wirklich kurzer Zeitraum. All das steht ganz nah vor unserer eigenen Haustür – und ist heute auf unseren Straßen wieder virulent. Das zu erzählen ist ganz wichtig. Aber es ist deshalb auch schwierig, weil natürlich Menschen die Herausforderung spüren.

Auschwitz-Überlebende haben formuliert: Es ist geschehen und es kann wieder geschehen, und das ist der einzige Sinn, warum wir darüber sprechen. Auschwitz-Überlebende sehen das so, dass das nicht dämonisiert werden soll, sondern in der Realität und Logistik des Staatsverbrechens darzustellen ist. Auschwitz war ja keine Räuberhöhle, keine absurde Situation, sondern es war ein streng logistisch getaktetes Mordunternehmen, das in allen Facetten vom damaligen deutschen Staat organisiert und betrieben worden ist. Das zu verstehen, das ist für die Menschen, die dort hingehen, besonders für die Kinder, eine ganz große Herausforderung.

– Sie wiesen auch daraufhin, dass der Antisemitismus in der Bundesrepublik lange unter dem Deckel geblieben ist, aber sich heute wieder offener zeigt. Wie bewerten Sie die Debatten in Deutschland um den Antisemitismus und auch darum, dass für manche nun genug über den Völkermord an den Juden geredet wurde?

– Das erzeugt bei mir immer eine immense Wut, weil ich das teilweise auch absurd finde. Zuerst hat man in Westdeutschland Anfang der 50er Jahre gesagt: „Jetzt ist endlich mal Schluss!“ Da hatte man noch gar nicht mit der Aufarbeitung angefangen. Seitdem zieht sich das durch die deutsche Geschichte. Es gibt immer Menschen, die irgendwann wollen, dass Schluss ist. Gleichzeitig entsteht alles in den Grundstrukturen wieder neu, was damals zu dieser Situation geführt hat.

– Was kann und was muss dagegen getan werden?

– Aufklärung ist ganz wichtig. Staatliche Unterstützung von pädagogischen Initiativen ist immens wichtig. Gleichzeitig ist das Bewusstsein von Menschen wichtig, sich deutlich zu machen: „Es liegt an mir! Ich muss mich im Internet laut machen gegen Antisemiten. Ich kann das, nicht der Staat muss sich äußern. Ich bin ein Teil des Staates und bin jetzt verantwortlich.“ So wie die Überlebenden sagen: „Ihr seid die Zeugen der Zeitzeugen.“, sind wir die Verantwortlichen der Demokratie.

– Wie kann die Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der Juden, das was „Holocaust“ genannt wird, aufrechterhalten werden, wenn die heute noch lebenden Zeitzeugen nicht mehr da sein werden?

– Das ist eine spannende und oft gestellte Frage, aus der ich immer eine gewisse Angst heraushöre: Ob die Warnzeichen und Stopp-Schilder, die inzwischen aufgerichtet worden sind, in den europäischen Gesellschaften deutlich genug aufgerichtet worden sind, damit wir wissen, wo die Reise hingeht, wenn es wieder entsprechende Entwicklungen gibt. Es wird an zwei Faktoren liegen: Das Eine ist, ob dem Internationalen Auschwitz-Komitee und anderen Institutionen eine ähnliche politische Bedeutung von Seiten der Politik und der Medien zugebilligt wird wie heute, wo es noch Überlebende gibt. Oder sagt man dann: „Ihr habt ja keine Authentizität der Personen mehr und müsst jetzt nicht mehr so viel politische Bedeutung haben und auch nicht mehr so wichtig genommen werden.“

Das Andere ist: Was geschieht in der Gesellschaft? Solange die Entwicklung so ist wie sie im Moment ist, ist das, was wir machen, wichtig, und wir werden nicht aufhören! Mir hat vor einigen Tagen ein Auschwitz-Überlebender aus Prag, 96 Jahre alt, eine Mail geschrieben: „Sag Ihnen am Gedenktag: Wir sind noch da!“ Das bleibt.

– Welche Rolle spielen bei dem Gedenken 75 Jahre danach die Befreier von Auschwitz, die Soldaten der Roten Armee?

– Jeder weiß, dass die Befreier von Auschwitz eine wichtige Rolle spielen müssen. Ich will die politischen Konflikte nicht bewerten. Aber ich zitiere mal Noach Flug, ein polnischer Jude aus Łodz. Er hat mir erzählt, dass sie im Lager immer gewusst haben: Die einzig realistische Option ist für sie die Befreiung durch die Rote Armee und sie haben den Tag herbeigesehnt, an dem die Rote Armee kommt. Sie wussten, dass die US-Amerikaner, Briten und Franzosen Auschwitz nicht erreichen werden.

Es waren noch etwa 8.000 Menschen im Lager, als die sowjetische Armee kam. Die anderen hatte die SS Richtung Westen getrieben. Für viele Überlebende ist das unvergessen, was die jungen sowjetischen Soldaten – die menschlich völlig überfordert waren mit dem, was sie in Auschwitz sahen, diese Toten und Halbtoten, die Asche, die Knochenberge, die in den Himmel ragten – getan haben. Die sich mit Sensibilität und Zartheit ihnen gewidmet haben und versucht haben, die Halbsterbenden ins Leben zu ziehen, manches falsch gemacht haben, aber sehr schnell begriffen, was geschehen ist – vom Kameramann der Roten Armee bis zu den einfachen Soldaten, bis zu den Ärzten und Offizieren, die die Protokolle angefertigt haben und begriffen haben, dass da ein Verbrechen geschehen war und dass die Zeugnisse sichergestellt werden müssen.

Christoph Heubner (Jahrgang 1949) ist Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Er ist außerdem Vize-Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz. Er wurde im Juni 2004 vom polnischen Ministerpräsidenten in den Internationalen Auschwitz Rat berufen, der die polnische Regierung berät und von Prof. Wladyslaw Bartoszewski geleitet wird.

Er betreut Jugendliche bei Seminaren und Erhaltungsarbeiten in der Gedenkstätte Auschwitz, hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht und wurde mehrfach in der Bundesrepublik und Polen ausgezeichnet.

* Die in diesem Artikel vorgebrachten Ansichten müssen nicht denen der Redaktion entsprechen.

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