Dienstag, Mai 7, 2024
StartPolitikEuropaWahlkampf um Brandenburg: Ex-Ministerpräsident Platzeck warnt vor „sehr gefährlicher AfD“ – Exklusiv

Wahlkampf um Brandenburg: Ex-Ministerpräsident Platzeck warnt vor „sehr gefährlicher AfD“ – Exklusiv

Kurz vor der Landtagswahl liefert sich die SPD in Brandenburg ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der AfD. Der Ex-Ministerpräsident des Landes und Chef des „Deutsch-Russischen Forums“, Matthias Platzeck, erklärt die Gründe für die Stimmverluste seiner Partei, warnt vor einer „rechtsextremen Vita“ und einer „militärischen Konfrontationsgefahr“ mit Russland.

Herr Platzeck, die SPD hat in den Umfragen massiv an Stimmen verloren. Mit welchem Gefühl sehen Sie die aktuelle Lage der Sozialdemokratie vor dem Hintergrund Ihrer Regierungszeit in Brandenburg – mit Wehmut vielleicht?

Ja, na klar, ist überhaupt keine Frage. Ich würde mir da andere Zahlen wünschen. Für mich ist aber jetzt in den Vordergrund gerückt, dass wir das Ziel haben und auch verfolgen, auf jeden Fall am Sonntag als stärkste Partei, wie in den 30 Jahren vorher, durchs Ziel zu gehen. Und das zweite: Wenn ich mir anschaue, was in Europa in den letzten Jahren passiert ist, ob ich Frankreich, Italien, Polen oder Ungarn nehme, dann haben es generell Volksparteien und auch Parteien, die sich für eine soziale Demokratie einsetzen – vorsichtig formuliert – ausgesprochen schwer. Da gibt es also Prozesse, die darüber liegen. Und wenn wir das einmal auf Ostdeutschland herunterbrechen, könnte man ja im ersten Anlauf sagen: Hier ist vielleicht politisch etwas falsch gemacht worden in Brandenburg, dass die AfD soweit aufgeholt hat. Wenn ich mir aber parallel Thüringen anschaue, wo ein linker Ministerpräsident seit fünf Jahren das Ruder in der Hand hat, ist dort die AfD ähnlich stark. Oder in Sachsen, wo die CDU mit Kretschmer seit fünf Jahrendas Ruder in der Hand hat. Dort ist die AfD gleichfalls ähnlich stark. Das führt, wenn man es prozesstheoretisch betrachtet, ganz klar zu der Schlussfolgerung: Da muss eine Folie drüber liegen, dafür muss es einen übergreifenden Grund geben, sonst gebe es signifikante Unterschiede.

Welcher Grund könnte das sein?

Ich bin ja jetzt viel in Wahlkämpfen unterwegs und rede mit vielen Leuten. Und ich glaube, dass wir jetzt nach 30 Jahren eine Summe bilden müssen, was da innerhalb einer Generation passiert ist. Das wird man vielleicht klarer sehen, wenn wir in 20 Jahren zurückblicken. In den 30 Jahren war das marginalste, was an sich schon bedeutend ist, dass die Menschen drei verschiedene Währungen hatten: erst die DDR-Mark, dann die West-Mark und dann den Euro – alles in einer Generation. Es gab in den 1990er Jahren, als ersten größeren Einschnitt, der in jedes Leben, in jede Familie hineingewirkt hat, den Zusammenbruch der Industrie im Osten – die Deindustrialisierung des Ostens. Es hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit förmlich explodiert ist und in jede Familie Einzug erhalten hat. Als sich die Bevölkerung davon stückchenweise erholte hatte, kam 2008 die Krise des entfesselten Finanzkapitalismus, die Wirtschafts- und Währungskrise, die nur unter Aufbietung aller Kräfte der staatlichen Möglichkeiten bis hin zur hohen Verschuldung einigermaßen eingedämmt werden konnte. Als das wiederum quasi bewältigt war – sie ist ja in Wirklichkeit bis heute nicht bewältigt – kam die Flüchtlingskrise. Alles das zusammen hat in Teilen der Bevölkerung den Eindruck hinterlassen, dass der Staat nicht in dem Sinne, wie sie es sich vorstellen, alles restlos in der Hand hat. Sondern, dass ihm an manchen Stellen etwas entgleitet. Das erzeugt Unsicherheitsgefühle. Dann müssen wir noch sehen, dass in diesem Zeitraum 1,2 Millionen junge Menschen den Osten verlassen haben. Das ist ein Aderlass, das ist eine Völkerwanderung. Wenn Sie das alles zusammenzählen, dann ist eher noch positiv zu vermerken, dass 80 Prozent der Menschen nach wie vor sagen, sie wollen sich an der Ausgestaltung der Demokratie beteiligen, sie wählen demokratische althergebrachte Parteien und sie wollen mit diesem System versuchen, die Zukunft zu gestalten. Das ist ja schon eher fast ein Positivum.

Und in wieweit sehen Sie hier die Krise der Bundes-SPD als Auswirkung auf die schlechten Umfragewerte in Brandenburg?

Wir können uns nicht entkoppeln, das ist klar. Und wir haben in Brandenburg so eine Faustformel. Diese Faustformel hieß immer, dass, wenn wir einigermaßen gut sind in Brandenburg, dass wir dann so sechs bis sieben Prozent vor dem Bundestrend liegen. Das haben wir bei den Wahlen immer so durchdeklinieren können. Und wenn Sie heute sehen, dass wir im Bundestrend bei 14 oder 15 Prozent liegen, dann ist es wieder so. Wir liegen im Land durch die Umfragen gestützt bei 21 Prozent. Aber viel mehr Abstand können Sie auch nicht erzeugen. Das heißt, da gibt es schon eine gewisse Korrelation zwischen Bund und Land. Man kann sich nicht völlig entkoppeln. Und das merken wir auch sehr deutlich.

Was wünschen Sie sich von der SPD auf Bundesebene, die ja in der letzten Zeit auch viele Krisen durchmacht? Stichwort Führungskrise

Ich wünsche mir sehr – das beginnt ja ab nächster Woche – lebhafte, positive Regionalkonferenzen mit den fast 20 Kandidatinnen und Kandidaten, die sich der Vorsitzendenwahl stellen. Ich wünsche mir, dass das produktiv wird, dass es ein positives Grundgefühl hinterlässt. Ich wünsche mir, dass der Umgang der Kandidaten und der sie unterstützenden Gruppen in einer Art und Weise passiert, die ruhig, diskursiv und streitig sein kann, aber niemals verletzend. Und so, dass die Partei am Ende des Prozesses im Dezember wirklich mit einer neuen Führung gestärkt, aufgemuntert und ermutigt daraus hervorgeht.

Das würde ich mir wünschen. Und dann bin ich mir auch relativ sicher, dass wir aus dem Umfragetief Anfang nächsten Jahres wieder herauskommen. Denn eines muss man ja auch noch ganz klar sagen: Wir haben in der Bundesregierung die Dinge, die wir mit in den Koalitionsvertrag eingebracht haben, für die wir gestanden haben, in den letzten Jahren auch bearbeitet und umgesetzt. Und von daher glaube ich, dass mit einer guten Führung, die es wieder rüberbringen kann, die Leute das auch wieder wahrnehmen.

Wenn wir schon bei Wünschen sind: Verraten Sie uns ihren Wunschkandidaten?

Das wird Sie nicht groß wundern. Wir haben ein Kandidatenduo, das aus meiner Heimatstadt Potsdam kommt, mit Clara Geywitz und Olaf Scholz. Beide kenne ich sehr, sehr lange. Clara Geywitz seit ihren politischen Anfängen. Ich kenne auch Olaf Scholz sehr gut. Das ist es keine ganz so erstaunliche Erkenntnis, dass ich mir sehr wünschen würde, dass die beiden am Ende als erste durchs Ziel gehen.

Sie haben ja viel Erfahrung mit rechten Parteien im Parlament. In den 1990er Jahren und Anfang der 2000er war die Deutsche Volksunion (DVU) im Landtag vertreten. Wie sind Sie damals mit den Rechten umgegangen? Und kann man das heute auf die AfD übertragen?

Ja und nein. Ich bin ja immer der Überzeugung gewesen und die trägt mich bis heute, dass ich versuche, auch mit allem, was man so tut im Wahlkampf, die Wählerinnen und Wähler, auch anderer Parteien, auch der AfD zu erreichen, den Diskussionen nicht auszuweichen. Ich hatte auch in den letzten Tagen im Nord-Westen unseres Landes einige heftige Debatten. Aber es gibt eine einzige – das war bei der DVU nicht anders –, eine ganz klare Grenze, die ich da ziehe: Wenn ich spüre und merke – das trifft leider auf nicht wenige Funktionsträger der AfD zu, dass sie die Grundlagen unseres Zusammenlebens – Toleranz, Würde des Menschen, Anerkennung, dass der andere genau dieselben Rechte hat wie ich selbst –, wenn das in Frage gestellt wird, dann ist wirklich bei mir der Punkt erreicht, wo ich sage, dass es keine Debattenebene geben kann. Damit will ich nun wirklich nichts zu tun haben, weil das unser Zusammenleben schlicht und ergreifend zerstört. Die AfD ist im Kern ihrer Führungsmannschaft von daher sehr gefährlich. Sie ist in Teilen – wie man das bei Herrn Kalbitz mit seiner ganzen Vita sieht – eine ganz klare und fast gefestigte rechtsextreme Vita, der noch ein weißes Mäntelchen umgehängt wird. Da ist es aber ansonsten ganz klar, dass sie deutschnational und extrem ist, wie man es aus den Lehrbüchern kennt.

Man hat in der letzten Zeit mitbekommen, dass das Thema Russland für die Menschen in Brandenburg durchaus wichtig ist. Viele finden, dass die Sanktionen gegen Russland abgeschafft gehören, und fordern einen Umgang mit der Russischen Föderation auf Augenhöhe. Wie sehen Sie das als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums?

Ich glaube, dass wir nach fünf Jahren in der Lage sein sollten, eine nüchterne Bilanz zu ziehen. Man verhängt ja Sanktionen nicht zum Selbstzweck, sondern hat ein Ziel. Man möchte etwas damit erreichen. Und wenn Sie sich heute diese fünf Jahre anschauen, möchte ich konstatieren, dass die wirtschaftlichen Beziehungen erheblich gelitten haben. Ich halte es für den europäischen Standort mit erheblichem Gefahrenpotentialverbunden, dass sich die Russische Föderation, die Wirtschaft der russischen Föderation, zunehmend, durch die Sanktion katalysiert, in Richtung Osten in den chinesischen Raum wendet. Die militärische Konfrontationsgefahr zwischen Russland und dem Westen ist nicht gesunken, sondern gewachsen. Die Stimmung, die ich in Russland selber wahrnehme, ist eher ein großes Stück antiwestlicher geworden, als sie es noch vor fünf, sechs oder zehn Jahren gewesen ist. Die politischen Verhältnisse gleichen einem Scherbenhaufen. Wir sind keinen Schritt vorangekommen. Und wenn man das konstatiert und dabei ganz nüchtern bleibt, muss man doch sagen, ob man hier nicht andere Wege findet müsste. Denn eins bleibt ja wirklich unumstößlich: Die wirklich großen Probleme, die brennenden Probleme, die vor uns stehen – Abrüstung, Friedenssicherung, Terrorbekämpfung, Umgang mit der Flüchtlingsbewegung, aber auch die Bekämpfung des Klimawandels –, nichts von diesen drängenden Fragen der Welt und der europäischen Gemeinschaft, wozu ich ja Russland zähle, ist ohne Russland lösbar. Und für mich bleibt der Leitsatz und das Leitmotiv der immer wahre Satz von Egon Bahr: Frieden auf diesem Kontinent wird es ohne oder gegen Russland einfach nicht geben.

Was ist der Hintergrund des Rückhalts für Russland in Ostdeutschland? Warum ist das Thema vor allem in den neuen Bundesländern so aktuell und wichtig?

Da gibt es bestimmt mehrere Gründe. Das kann man jetzt nicht in epischer Breite darlegen. Aber wenn man das im Holzschnitt macht, gibt es einmal die Frage, dass die wirtschaftliche Verflechtung im Osten Deutschlands auch durch historische Gründe enger war und ist, als es mit den westdeutschen Bundesländern der Fall ist. Das zweite ist, dass sie sehr viele persönliche Bindungen nach wie vor insbesondere in der mittleren und älteren Generation im Osten Deutschland haben – durch Studium in der Sowjetunion, durch familiäre Bindung, aber auch durch Reisen. Letztlich auch, dass 500.000 Soldaten und Zivilbeschäftigte der sowjetischen Armee in Ostdeutschland stationiert waren, was ja auch zu bestimmten Verbindungen geführt hat. Und dann gibt es noch einen Fakt: Wenn ich auf Veranstaltungen in Westdeutschland bin, höre ich noch ein relativ klares Feindbild. Ein älterer Herr in Freiburg im Breisgau hat mir mal gesagt, er gibt ehrlich zu, seine einzige Beziehung zu der Sowjetunion und Russland war, dass seine Eltern in den 1950er Jahren mal gesagt haben, wenn du nicht aufisst, kommt der Russe. Im Osten Deutschlands hat man durch die Verbindungen zu der Sowjetunion nicht unbedingt jetzt alle erreicht – das alles seien Freunde der Russen, aber man hat jaimmer Angst vor virtuellen Dingen, die man nicht kennt. Wenn man sich kennt und sich begegnet, wenn man sich ausgetauscht hat, die Kultur und Sprache des anderen kennt, dann nehmen die Ängste, auch wenn man den anderen nicht unbedingt liebt, rapide ab. Und ich glaube, das alles macht in der Summe den Unterschied zwischen der Rezeption des Verhältnisses zu Russland in Ost und West.

Was würden Sie ihrem Nachfolger, Herrn Woidke, für die letzten Tage im Wahlkampf auf den Weg geben?

Ich brauche Dietmar Woidke nichts mit auf den Weg zu geben. Er macht den Wahlkampf mit offenem Visier, mit dem Gesicht zu den Menschen. Er sagt klare Sätze, er ist den Menschen gegenüber sympathisch, ohne falsche Versprechungen zu machen. Und wenn Sie die Direktwahlfrage nehmen, ist er den anderen Spitzenkandidaten Lichtjahre voraus. Und ich glaube, das wird uns in den letzten Tagen auch helfen. Ich bin nach wie vor optimistisch, dass wir unser Wahlziel Nummer eins, stärkste politische Kraft im Land zu bleiben, am Sonntagabend auch erreichen werden.

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