Freitag, März 29, 2024
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Wozu Militärrabbiner, wenn es keine deutschen Juden mehr geben wird?

Das EU-Parlament diskutiert über eine Anhebung der Ausgaben für die Gewährleistung der Sicherheit von Synagogen. Anlass waren mehrere Ereignisse in den vergangenen Monaten in Deutschland – der Anschlag auf die Halle-Synagoge und andere antisemitische Vorfälle. Derweilen erwägen immer mehr Juden, Deutschland den Rücken zu kehren.

„Nach rund 100 Jahren werden wir wieder jüdische Militärrabbiner in der Bundeswehr einrichten“, schrieb Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Donnerstag in ihrem Twitter-Account.  „Ein klares Bekenntnis: Jüdisches Leben ist selbstverständlich in unserem Land“, resümierte die Politikerin. 

Zur selben Zeit aber lässt die Ministerin gegen ein Neonazi-Netzwerk in der Bundeswehr ermitteln. Im Zivilleben beklagen sich deutsche Juden derweilen immer häufiger über alltägliche Beeinträchtigungen und erwägen, Deutschland den Rücken zu kehren.

„Die spucken wegen der Kippa“

Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert besuchte ein deutscher Kanzler das ehemalige KZ Auschwitz-Birkenau in Polen. In der vergangenen Woche hielt Kanzlerin Angela Merkel dort eine 15 Minuten lange Rede; ihr brach mehrmals fast die Stimme  –  im trübsten Ort auf der Erde zu sprechen, das scheint tatsächlich sehr schwer zu fallen.

Noch schwerer schien es für Merkel zu gehen, weil ihr gegenüber nicht nur ehemalige KZ-Gefangene, sondern auch junge Juden aus Berlin saßen. Sie spüren auch heute am eigenen Leib, was Antisemitismus ist.

„Mir wurde mehrmals vor die Füße gespuckt, weil ich eine Kippa trug. Menschen schrien mich mit ‚Jude‘ an, und das mitten auf den Straßen, im Stadtzentrum“, erzählt Daniel Estrin, einer der Gäste der Gedenkzeremonie mit Angela Merkel in Auschwitz gegenüber National Public Radio.

Wenn er seinen Freunden aus anderen Ländern über solche Vorfälle erzähle, könnten sie kaum glauben, dass in Deutschland Antisemitismus existiert.

Antisemitische Vorfälle häufen sich

Die Worte des Berliners werden durch Zahlen bestätigt. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind 2018 um 20 Prozent mehr antisemitische Vorfälle als im Vorjahr registriert worden. Unter den 1646 bundesweit registrierten Verbrechen wegen Judenhass waren 62 gewalttätig. Allerdings machte sich kaum jemand wirklich Sorgen – bis zu dem Tag, als ein schrecklicher Anschlag auf eine Synagoge verübt wurde, bei dem noch weitaus mehr Menschen hätten sterben können. Anfang Oktober verübte der 27-jährige Stephan Balliet einen Anschlag auf eine Synagoge in Halle. Beim Anschlag kamen zwei Menschen ums Leben, sieben wurden verletzt.

Es hätte mehr Opfer geben können, doch der Vorsteher der Synagoge, Yossel Remis, habe rechtzeitig die Tür geschlossen, weshalb der Attentäter nicht habe eindringen können, wie das Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland, Avichai Apel, gegenüber RIA Novosti erklärte. Zudem habe Remis alle Älteren aus dem Hauptsaal in Nebenräume in Sicherheit gebracht.

An jenem Tag, dem 9. Oktober, ging unter Juden deutschlandweit die Angst um. Gläubige gingen zum Jom-Kippur-Fest unter verstärktem Polizeischutz.

Rivka Golberg aus München erzählt, dass sie erst von Nachbarn und Bekannten von der schrecklichen Tat in Halle erfahren habe, weil an diesem Tag strikt gefastet werde und keine Kommunikationsgeräte genutzt würden. Diese Nachricht sei sehr unerwartet gewesen, man wisse von solchen Anschlägen in benachbarten Ländern wie Frankreich, doch Deutschland habe immer als ein relativ ruhiger Ort gegolten, so Golberg.

Was die Politik damit zu tun hat

Die Serie von Anschlägen auf Synagogen in Europa zwischen 2015 und 2017 ging an Deutschland vorbei. Der Anschlag in Halle kam völlig unerwartet. Zudem wurde er nicht von einem Auswanderer aus dem Nahen Osten, sondern von einem Rechtsradikalen verübt. 

„Ich sagte schon mehrmals vor ein, zwei und drei Jahren, dass der Aufschwung der rechtsradikalen Stimmung in Europa gefährliche und traurige Folgen haben kann. Leider bewahrheiteten sich seine Befürchtungen“, sagt der Vorsitzende der europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt.

Viele Juden in Deutschland führen den Ausbruch des Hasses auf die wachsende Popularität der AfD zurück, die innerhalb von zwei Jahren zu einer realen politischen Kraft avancierte. Dabei distanziert sich die Partei von dem neonazistischen Milieu, was der jüdischen Gesellschaft jedoch offenbar als unzureichend erscheint.

Gerade in Halle sei das Problem mit Neonazis besonders akut, auch im benachbarten Thüringen, erklärt Apel.  Leider sei diese „Pest“ sogar in die Schulen eingedrungen. Er war nämlich vor kurzem in der Gedenkstätte Buchenwald. Dort habe ihm eine Mitarbeiterin erzählt, dass Schüler aus den benachbarten Dörfern bei Führungen sich mit Nazi-Henkern assoziieren. Vor zehn bzw. 15 Jahren habe man sich so etwas nicht vorstellen können, so Apel.

Der Plan

Unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sind laut Apel immer öfter Gespräche über eine Flucht aus Deutschland zu hören. Zurzeit leben in Deutschland fast 120.000 Juden. Viele von ihnen fühlen sich nicht mehr sicher.

Das Bedrohungspotenzial für die jüdische Gemeinde nehme zu, obwohl die Rechtsschutzorgane noch vor kurzem sagten, dass dem nicht so sei, so German Moyzhes von der Synagoge in Köln. Deswegen müssten jüdische Gemeinden in Deutschland die Ausgaben für den Wachschutz erhöhen. Die von den Behörden bereitgestellten Gelder würden nicht ausreichen.

Aus denselben Gründen wurde das Thema der Erhöhung der Staatsfinanzierung der jüdischen Gemeinden zum Gegenstand heftiger Diskussionen nicht nur in Deutschland, sondern auch im gesamten Europa. Am aktivsten wird diese Frage in Brüssel diskutiert. Wenn es nach dem deutschen Grünen-Abgeordneten  im EU-Parlament, Sergey Lagodinsky, gehen würde, wäre ein Aktionsplan zur Gewährleistung der Sicherheit aller europäischen Gemeinden notwendig. „Wir besprechen diese Frage gerade mit der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen“, sagt der Abgeordnete und Mitglied der Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus. Denn bei der Tragödie in Halle handele es sich vor allem um Missgriffe des Systems.

Am Mittwoch hat von der Leyen ihrerseits zu einem gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus aufgerufen. Die jüdische Gemeinschaft sei nicht allein, versicherte  die EU-Kommissionschefin. „Wir werden diesen Kampf gemeinsam führen“. 

Laut Lagodinsky ist aber bereits vor dem Angriff in Halle offensichtlich gewesen, dass die jüdischen Gemeinden bedroht seien. Ja, es sei zunächst ein Angriff vor allem seitens derExtremisten aus Nahost-Ländern erwartet worden. Doch die Juden haben weitere „Freunde“ auf der rechten Seite – vor der Tragödie in Halle hätten nicht alle verstanden, dass diese ebenso eine reale Gefahr darstellen würden, so Lagodinsky.

Die Zahl der Anschläge auf Juden in Deutschland nehme zu. Diese Tendenz könnte sich nach Meinung des Abgeordneten auch auf Nachbarländer ausdehnen. Deswegen sei das Problem für ganz Europa kritisch.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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