Samstag, Mai 4, 2024
StartPolitikEUDie illiberale Demokratie von Viktor Orbán

Die illiberale Demokratie von Viktor Orbán

Er wirbt für Demokratie ohne Liberalismus: Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat sich mit seinen Ideen in Teilen der EU unbeliebt gemacht. Man wirft ihm Schwächung der Demokratie in seinem Land vor. Doch Orbán bleibt unbeirrt. Am Mittwoch besucht ihn ein weiterer Staatschef, der dem Liberalismus ebenfalls kritisch gegenübersteht.

An wen hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wohl gedacht, als er in seiner Abschiedsrede zum Kampf gegen den „dummen Nationalismus“ aufrief? An die Briten? An Matteo Salvini? An Viktor Orbán?

Man kann hier nur spekulieren. Dass der ungarische Premierminister für viele EU-Spitzenpolitiker ein Problemfall ist, lässt sich nicht bestreiten.

Die Massenmedien gehen mit Orbán meist sehr kritisch um: Befragt werden fast ausschließlich die Experten, die an Orbán kein gutes Haar lassen und ihn als Autokraten mit Neigungen zu Verschwörungstheorien darstellen.

Sputnik hat mit politischen Analytikern und Korrespondenten aus Ungarn gesprochen, die „vom Mainstream abweichende“ Meinungen vertreten.

Orbán im Klartext: „Wir bauen einen illiberalen Staat auf“

Der neue Staat, den wir aufbauen, ist ein illiberaler Staatverkündete Orbán 2014 ganz unverblümt in seiner Rede in der 25. Freien Sommeruniversität in Băile Tușnad.

Der ungarische Staat sei „keine einfache Summe seiner Individuen“, sondern eine „Gemeinschaft, die organisiert, verstärkt und entwickelt werden muss“.

Ein solcher Staat lehne nicht die Grundwerte des Liberalismus wie Freiheit ab. Er stelle diese Ideologie nur nicht in den Mittelpunkt seiner Organisation, habe stattdessen seine spezifische, nationale Herangehensweise an die Sache.

Orbán legte später seine Ideen in seiner Rede bei der Tusványos-Universtität in Rumänien im Juli 2019 genauer dar: „In einem liberalen System sind die Gesellschaft und die Nation nichts weiter als eine Ansammlung konkurrierender Individuen. Was sie alle zusammenhält, ist die Verfassung und die Marktwirtschaft.“

In einem illiberalen System werde das individuelle Streben nach Freiheit hingegen nicht über die Interessen der Gemeinschaft gestellt.

Was versteht Orbán unter „illiberaler Demokratie“?

Kurz gefasst: Ja zu Demokratie, nein zu Liberalismus, erläutert die ungarische Journalistin und politische Analytikerin Mariann Őry von der Tageszeitung „Magyar Hírlap“.

“Aus dem illiberalen Standpunkt ist ein Staat eine Gemeinschaft, die von ihrer Geschichte und Kultur bestimmt wird, und auch die Vorstellung des Verhältnisses zwischen einer Person und der Gesellschaft ist anders“, so Őry gegenüber Sputnik.

Der Begriff „illiberale Demokratie“ kann auch als „traditionelle christliche Demokratie“ definiert werden, sagt der leitende politische Analytiker vom Institut des 21. Jahrhunderts (21st Century Institute) in Budapest, Dániel Deák.  

„Als Folge des Liberalismus hat die Mehrheit der europäischen Länder die traditionellen christlichen Werte ignoriert und vergessen“, so Deák. Die Flüchtlingskrise 2015 habe dies klar gezeigt, als „mit der Hilfe liberaler politischer Kreise eine Islamisierung des Kontinents begonnen“ habe.

Die ungarische Regierung habe als erste die Wichtigkeit der europäischen und nationalen Werte hervorgehoben und sei dafür zu Unrecht als „fremdenfeindlich“ und „antisemitisch“ beschimpft worden. Dennoch hätten die Entwicklungen der letzten Jahre der ungarischen Führung Recht gegeben.

„Es ist offenkundig und immer mehr Menschen verstehen, dass Ungarn nicht als Feind der EU gesehen werden soll. Im Gegenteil: Seine Politik trägt zum langfristigen Fortbestehen Europas bei, das auf starken Nationalstaaten basiert.“

Ungarn sei kein Anti-EU-Land, sondern ein Land, das eine Alternative zu „globalistischen und antinationalen Stimmungen“ biete.

Der Politologe spricht von einem klaren Trend in Europa: Die Kräfte, die die liberale Demokratie unterstützen, würden schwächer, während die Parteien, die sich für “traditionelle christliche Werte” einsetzten, im Aufstieg begriffen seien.

Demokratisch und nicht liberal: Wie passt das zusammen?

Ohne Liberalismus keine Demokratie! sagen Kritiker von Orbán. Doch, meint Mariann Őry: Das moderne Verständnis der „liberalen Demokratie“ sei in Wirklichkeit einfach nur Scheindemokratie.

„Die Liberalen behaupten, sogar die christliche Demokratie müsse liberal sein. Das stimmt aber nicht, weil das Gegenteil der Fall ist: Die liberale Demokratie könnte ohne grundlegende christliche Werte wie Gleichheit nicht existieren.“

Die liberale Demokratie habe aufgehört, lebensfähig zu sein, sobald sie sich von diesen christlichen Grundwerten losgelöst habe, zitiert sie aus Orbáns Rede in Rumänien vom Juli 2019.

“Anstatt die persönliche Freiheit zu schützen sind sie (die Liberalen – Anm. d. Red.) dabei, die Verbindung zum realen Leben zu verlieren und jeden Grundwert zu hinterfragen, angefangen vom Geschlecht bis hin zur nationalen Zugehörigkeit“, so Őry weiter.

Diese Agenda werde dermaßen hart durchgesetzt, dass das heutige System lediglich liberal, aber sicherlich nicht demokratisch sei.

Der Politikexperte Deák sieht genau diese Unterstützung christlicher Werte und auch die Familienpolitik der Regierungspartei Fidesz als Grund für Orbáns Beliebtheit: Ungarn gebe europaweit das meiste Geld aus seinem Staatsbudget zur Unterstützung von Familien aus.  Die ungarische Regierung löse die demographischen Probleme im Lande nicht durch Unterstützung illegaler Migration, sondern durch Finanzhilfen für Familien und Kinder.

„Hybrid-Staat“ Ungarn

Ein Argument, das man heute in Bezug auf Ungarn oft hört: Dies sei inzwischen ein Hybrid-Staat – keine Demokratie und auch keine Diktatur.

Diese Einschätzung lehnt der Politologe D. entschieden ab: Ungarn sei „eine unbestreitbare Demokratie“: „Alle politischen Parteien, die mindestens ein Prozent der Stimmen bei Wahlen erreichen, haben Anspruch auf finanzielle Unterstützung aus dem Staatsbudget“.

Die Pro-Migrations-Kreise in der EU würden aber versuchen, Ungarn politisch zu isolieren. Genau zu diesem Zweck bedienten sie sich solcher Begriffe wie „Diktatur“ oder ein „Hybrid-Regime“.

Als Beweis für die gut funktionierende Demokratie in Ungarn diene der jüngste Erfolg der Opposition bei den Kommunalwahlen. „Daher sind die erwähnten Beschuldigungen Teil des politischen Drucks seitens der Hasser und spiegeln nicht die politische Lage in Ungarn wieder.“ Auch den Vorwurf der fehlenden Unabhängigkeit der ungarischen Presse hält der Experte für grundsätzlich falsch. 

Auch Őry ist mit der Kritik kategorisch nicht einverstanden: Die ungarische Regierung sei mehrfach bei freien und fairen Wahlen wiedergewählt worden.

„Der Grund für diese Brandmarkung ist die Tatsache, dass die ungarische Regierung – und nicht nur die ungarische –Westeuropa zeigt, dass seine Ideen über den Liberalismus, Individualismus und offene Gesellschaft nicht die einzige Alternative sind.“

Putin und Orbán kommen am Mittwoch zusammen

Am heutigen Mittwoch reist der russische Präsident Wladimir Putin nach Ungarn. Wie der ungarische Regierungschef Orbán, steht Putin dem westlichen Liberalismus auch ziemlich kritisch gegenüber.

Für großes Aufsehen sorgte Putins Interview für die Financial Times, in dem er den Liberalismus als „ausgedient“ bezeichnete. Der Liberalismus habe im Westen dazu geführt, dass die führende Elite von der einfachen Bevölkerung komplett abgekoppelt sei.

An empörten Reaktionen hatte es nach dem Interview nicht gemangelt: Putin beklagte sogar vor kurzem, man versuche immer noch wegen seiner Worte auf ihm „herumzuhacken“.

„Ich habe nichts gegen den Liberalismus, wir haben aber unsere eigenen Traditionen. Warum sollten wir sie nicht schätzen?“, verteidigte sich der russische Staatschef.

Tatsächlich findet man Ähnlichkeiten in den Äußerungen von Putin und Orbán: Die beiden lehnen die absolute Meinungshoheit und den Wahrheitsanspruch der westlichen Liberalen ab.

Die liberalen Ansichten würden der Mehrheit der Bürger aggressiv aufgezwungen, beklagte Putin in dem Interview. Orbán hatte zuvor ebenfalls betont, dass die Meinung der Mehrheit respektiert werden müsse, weil genau das den Kern der Demokratie ausmache.

Laut dem ungarischen Regierungschef toleriert das westliche liberale System aber keinen Widerspruch und reagiert darauf nicht mit sachlichen Argumenten, sondern mit Hass. 

Widerspenstiges Ungarn bestrafen?

Hin und wieder sind auch Aufrufe zu hören, Ungarn für sein Verhalten zu bestrafen, sollte es weiterhin nicht nach den EU-Regeln spielen: Vorgeschlagen wird meist, die Regierungspartei Fidesz aus der Europäischen Volkspartei (EVP) auszuschließen und die Finanzhilfe seitens der EU zu kürzen.

Die EU-Geldmittel sollten laut Őry aber nicht an zusätzliche, „nicht objektive und dehnbare“ Bedingungen wie Rechtsstaatlichkeit – die übrigens keine einheitliche Definition habe – gebunden werden. Es gebe ohnehin schon genug Garantien für die EU.  

„Die EU-Gelder aus politischen Gründen dafür zu nutzen, um Druck auf Mitgliedsstaaten auszuüben, ist eine gefährliche Vorgehensweise.“

Das schade nur dem Gemeinschaftsgefühl innerhalb der EU und verstärke auch die Vorstellung, dass neue EU-Mitgliedsländer als Staaten „zweiter Klasse“ betrachtet würden, von denen erwartet werde, dass sie sich anpassen – ohne Rücksicht auf ihre historischen Hintergründe.

Ganz abgesehen davon, dass EU-Gelder keine Wohltätigkeit seien: „Sie nutzen der EU als Ganzes, darunter auch den reicheren westlichen Staaten wie Deutschland. Unsere Region hat ihre Märkte geöffnet und genug Opfer für den Zugang zur EU gebracht.“

Erfolg der Opposition: Orbáns Unterstützung schwindet?

Die  ungarischen Oppositionskräfte haben laut Deák ihre Kräfte gebündelt und ihre ideologischen Verschiedenheiten zeitweilig vergessen. Das habe ihnen auch den jüngsten Erfolg bei den Kommunalwahlen, vor allem in Budapest, gebracht.  

„Nichtsdestotrotz zeigen die allgemeinen Ergebnisse eine erhöhte Unterstützung des Fidesz im Vergleich zu den vorigen Wahlen. Sollte heute eine Parlamentswahl stattfinden, würde Fidesz mit einer großen Mehrheit gewinnen.“

Die extrem diverse Opposition habe hingegen wenig Chancen, bis zur nächsten Parlamentswahl 2022 vereint zu bleiben. Dasselbe sei auch in Polen passiert: Nach den erfolgreichen Kommunalwahlen gelang es der Opposition nicht, ihre Einheit bei der Abstimmung im Parlament zu bewahren, weshalb die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit großer Mehrheit gewonnen habe.

Die linke, liberale Opposition sei in Budapest stärker als in den anderen Teilen des Landes, sagt Mariann Őry. „Das ist ein verbreiteter globaler Trend und keine ungarische Besonderheit. Die Regierungspartei behalte aber weiterhin die absolute Mehrheit im Lande.

Quelle!:

Empfohlene Artikel
- Advertisment -
Translate »